Zum Muttertag — Der unvergesslichste Mensch in meinem Leben ( Philip Roth )


>>>>>Sie ist so tief mit meinem Sein verbunden , dass ich während meines ganzen ersten Schuljahres geglaubt haben muss, alle meine Lehrerinnen seien meine Mutter in veränderter Gestalt

Sobald das letzte Klingelzeichen ertönte, rannte ich nach Hause und fragte mich, ob ich es wohl schaffen würde, in unserer Wohnung anzukommen, bevor es ihr gelungen war, sich rückzuverwandeln.

Aber jedes Mal stand sie, wenn ich zu Hause ankam, bereits in der Küche und stellte mir meine Milch und Kekse hin. Ein Kunststück, dass mich keinesfalls dazu bewegte, meinen Irrglauben aufzugeben. Statt den Tatsachen ins Auge zu sehen, erhöhte diese vermeintliche Bravourleistung nur meinem Respekt vor den geheimen Kräften meiner Mutter.

Andererseits war ich jedes Mal erleichtert, sie nicht in irgendeinem Zwischenstadium ihrer Verwandlung erwischt zu haben, auch wenn ich es immer wieder darauf anlegte.

Ich wusste genau, mein Vater und meine Schwester ahnten nichts vom wahren Wesen meiner Mutter und die Last des Verrats, die mein Teil sein würde, sollte ich sie jemals ertappen, war mehr als ich mit meinen fünf Jahren auf mich zu nehmen bereit war. Ich glaube, ich fürchtete sogar, ich würde es nicht überleben, sollte ich je mit eigenen Augen beobachten, wie sie aus der Schule durchs Schlafzimmerfenster geflogen kam oder sich Stück für Stück aus dem Nichts materialisierte und in ihre Schürze schlüpfte.

Natürlich erzählte ich ihr gewissenhaft alles von meinem Tag im Kindergarten, wenn sie es von mir verlangte . Ich machte mir keinesfalls vor, als verstünde ich die ganze Tragweite ihrer magischen Fähigkeiten und ihrer Allgegenwart, aber dass sie damit herausfinden wollte, was für ein kleiner Junge ich war, wenn ich sie nicht in meiner Nähe wähnte, davon war ich aus tiefster Seele meines 5-jährigen Seins überzeugt. Die Folge dieser Phantasie, die sich genau in dieser Form bis in das erste Schuljahr hielt, war — da mir nichts anderes übrig blieb — meine Aufrichtigkeit.

Was für Antennen diese Frau hatte! Was für eine Energie! Was für eine Gründlichkeit! Sie suchte und fand die Fehler in meinen Rechenaufgaben und die Löcher in meinen Strümpfen. Der Schmutz unter meinen Nägeln entging ihr ebenso wenig wie der an meinem Körper.

In ihrem Fruchtgelee schwebten die Pfirsichstücke als trotzten sie der Schwerkraft und sie konnte Kuchen backen, der wie Banane schmeckte.

Wenn jemand wirklich alles konnte, dann war es meine Mutter. Und wie konnte ein kleiner Junge mit meiner Intelligenz und meiner Beobachtungsgabe daran zweifeln.<<<<< ( Philipp Roth )

Happy Mother’s Day

Dr. Rafael Korenzecher

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